Russlands Wirtschaft: "Die Bezahlung von Soldaten, die kämpfen und sterben, ist Wachstum"

Der russische Angriffskrieg spült reichlich Geld in die Kasse des Kreml. Wie der Westen Russlands Wirtschaft wirklich schaden kann, erklären zwei Experten.

"Den Russen geht es gut, in Moskau blüht das Geschäft", klagt eine Ukrainerin in einem Gespräch mit watson. Frust schwingt in ihrer Stimme. Die Menschen in der Ukraine kämpfen ums Überleben und in Russland gehe der Alltag beinahe nahtlos weiter, klagt sie.

Dabei sollten doch die westlichen Sanktionen Russlands Wirtschaft den Wind aus den Segeln reißen und die Kriegsmaschinerie zum Erliegen bringen.

Die Realität sieht anders aus.

Ukraine-Krieg: Warum Russlands Wirtschaft wächst

Russland geht das Geld für den Krieg in der Ukraine nicht aus. Das zeigt das Ergebnis einer Prognose der Denkfabrik "Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche" (WIIW). Demnach werde die russische Kriegswirtschaft dieses Jahr um 2,8 Prozent zulegen und nächstes Jahr mit 2,5 Prozent etwas langsamer expandieren.

"Die russische Wirtschaft wächst derzeit ziemlich stark, 'überhitzt' sogar", sagt Wirtschaftsexperte Vasily Astrov vom WIIW auf watson-Anfrage. Mit "überhitzt" meint er: Das Angebot kann mit der Nachfrage nicht Schritt halten, was zu hoher Inflation führt.

Als wichtigsten Grund, warum Russlands Wirtschaft blüht, sind laut ihm die Kriegsausgaben des Staates, oft auch als "militärischer Keynesianismus" bezeichnet. "Sie sorgen nicht nur für hohe Wachstumszahlen bei der Rüstungsproduktion, sondern kommen auch indirekt vielen anderen Sektoren zugute", führt Astrov aus.

Russische Soldaten im Angriffskrieg gegen die Ukraine, der die russische Wirtschaft beflügelt.

Als Beispiel nennt er etwa die steigende Beschäftigung und die Verdoppelung der Löhne im Rüstungssektor. Dies habe zu einem Wettbewerb um die knappen Arbeitskräfte seitens anderer Sektoren geführt. Die Folge: Ein starkes reales Lohnwachstum, "wovon der private Konsum natürlich profitiert", meint Astrov.

"Der Bau von Waffen, die eine Woche später zerstört werden, ist Wachstum"
\- Wirtschaftswissenschaftler Renaud Foucart -

Dieser Wachstumspfad könnte laut ihm jahrelang anhalten, weil der Staat voraussichtlich genug Geld haben wird, um dies zu finanzieren. Denn die Budgetdefizite von ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) seien auch auf Dauer ertragbar. Zur Erinnerung: Das BIP misst den Gesamtwert aller Produkte und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft produziert werden.

"Das BIP-Wachstum dürfte zwar in diesem Jahr und in den Jahren danach etwas verlangsamen, aber trotzdem oberhalb von zwei Prozent pro Jahr bleiben", prognostiziert Astrov. Allerdings müsse man sich vor Augen halten, was das BIP-Wachstum misst, sagt Wirtschaftswissenschaftler Renaud Foucart von der Universität Lancaster.

Sanktionen konnten russischen Militärkomplex nicht aufhalten

Im Falle Russlands sei das derzeitige unerwartet hohe Wachstum weitgehend auf unerwartet hohe öffentliche Ausgaben zurückzuführen. "Der Bau von Waffen, die eine Woche später zerstört werden, ist Wachstum. Die Bezahlung von Soldaten, die kämpfen und sterben, ist Wachstum. Die Zahlung von Entschädigungen für tote Soldaten ist Wachstum", führt Foucart auf watson-Anfrage aus.

Richtig sei aber auch, dass Russland mithilfe von Ländern wie Iran, aber auch mit einem riesigen Netz "neutraler" Länder oder westlicher Länder, die die Sanktionen umgehen, Waffen und Munition herstellen und den Krieg führen kann.

Foucart sagt weiter:

"Es kann auch Öl und in gewissem Umfang Gas verkaufen. Dies ist das eigentliche messbare Ergebnis und der 'Beweis' dafür, dass die Sanktionen zwar die Wirtschaft behindern, aber den russischen Militärkomplex nicht aufgehalten haben."

Vergleicht man das Pro-Kopf-BIP in Russland mit seinen – der EU beigetretenen – Nachbarländern, wird laut Foucart allerdings auch deutlich: Russland stagniert seit Beginn der Sanktionen, obwohl es reich an Öl und Gas ist und über eine sehr gute strategische Lage verfügt.

Wenn man laut Foucart über das Wachstum im Jahr 2024 spricht, ist das ein kleiner Aufwärtstrend, der nicht darüber hinwegtäuscht, dass Russland um 2008 fast so reich war wie Lettland, Polen oder Ungarn und jetzt doppelt so arm ist.

"Dass Russland arm ist, weil es sich isoliert hat, ist der Grund dafür, dass es sich militärisch so verhält, wie es sich verhält, indem es seine Nachbarn angreift", sagt Foucart. Laut ihm werde Russland schlecht geführt, und die einzige Möglichkeit für das Regime, Stärke zu zeigen, besteht darin, über etwas anderes zu reden.

Etwa auch über völkerrechtswidrige Angriffe auf andere Staaten wie Kasachstan oder europäische Länder, zum Beispiel Polen oder die baltischen Staaten.

Sind Putins Imperialismus-Träume rein wirtschaftlich möglich?

Dazu rühren die Propagandist:innen des Machthabers Wladimir Putin reichlich die Kriegstrommeln im russischen Fernsehen. Kaum ein Tag vergeht, an dem Kremllautsprecher Wladimir Solowjow nicht von russischen Panzern bis nach Berlin träumt und von der Einäscherung Polens.

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Ist Russlands Wirtschaft für solch große "Ambitionen" gewappnet?

Astrov kann sich so ein Szenario nicht vorstellen. Russland hat laut ihm bereits enorm viel Mühe, die Ukraine zu erobern. Selbst die Westukraine – von den Nato-Staaten ganz zu schweigen – werde nach seiner Einschätzung nach außerhalb der russischen Reichweite bleiben.

Aber: "Rein wirtschaftlich würde aus russischer Sicht nichts gegen einen militärischen Angriff etwa auf einen der baltischen Staaten sprechen."

Foucart zweifelt Russlands Wirtschaftskraft jedoch an.

Aus rein wirtschaftlicher Sicht ist Foucart noch nicht klar, wie genau Russland den Krieg in der Ukraine "gewinnen" könnte. Dazu gebe es zu viele Fragen:

  • Was würde es genau bedeuten, die Ukraine einzunehmen? Sie militärisch zu besetzen? Das ganze Land? Für wie lange? Und gleichzeitig die gesamte Infrastruktur wieder aufzubauen?

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Auf Foucart wirkt dieses "Vorhaben" unmöglich, "denn es ist ein großer Unterschied, ob man die Krim, den Donbass oder Tschetschenien einnimmt und verwaltet oder ob man ein riesiges, größtenteils feindliches Land wie die Ukraine besetzt."

Am Ende geht es Foucart zufolge mehr darum, Macht für innenpolitische Zwecke zu demonstrieren. Er führt aus:

"Um Nato-Länder anzugreifen, müsste Russland zunächst seine politischen Operationen im Westen gewinnen und Putin-freundlichere Regime in den Nato-Ländern haben. Das ist möglich, aber heute nicht der Fall."

Um die Ukraine noch besser zu unterstützen, sei bei den Sanktionen noch viel Luft nach oben, meinen die Experten.

Gift für Russlands Wirtschaft: Sekundärsanktionen

Laut Astrov gibt es nur einen Weg, der russischen Wirtschaft einen wesentlichen Schaden zuzufügen: Eine effiziente Implementierung der sekundären Sanktionen gegen Drittländer, die mit Russland Geschäfte machen, wie etwa Türkei oder China.

Diesen Schaden sehe man schon zu einem gewissen Ausmaß, meint Astrov. "So sind zum Beispiel die Importe aus der Türkei im Januar bis Februar 2024 um ein Drittel gesunken. Viele türkische Banken weigerten sich unter dem US-Druck, die Importzahlungen aus Russland anzunehmen."

Eine ähnliche Geschichte sehe man mit chinesischen Banken. Wenn diese Probleme Astrov zufolge anhalten, wird es zu einem Problem aus russischer Sicht.

Auch Foucart erwähnt Sekundärsanktionen. Laut ihm gibt es viele Möglichkeiten, chinesische und indische Unternehmen, aber auch westliche multinationale Konzerne, dazu zu bringen, ihre Geschäfte in Russland nicht mehr wie gewohnt abzuwickeln.

Sein Vorschlag zur Verschärfung der Sanktionen: Russland und alle, die mit dem Land Handel treiben, für die Kosten des Krieges aufkommen lassen.

Zudem fordert er: "Besteuert die Geschäfte in und mit Russland. Und besteuert das russische Öl und Gas." Foucart sieht beim Öl die Achillesferse der russischen Wirtschaft. Trotz Sanktionen gelinge es Russland noch immer, sein Öl auf den Weltmärkten zu verkaufen und damit reichlich Geld in die Kreml-Kasse zu spülen.

Laut dem "Handelsblatt" hat Russland 2023 fast sein gesamtes Öl nach China und Indien verkauft.