Stalker-Serie bei Netflix: Eklat um "Rentierbaby" wäre vermeidbar gewesen

"Rentierbaby" von und mit Richard Gadd basiert auf einer wahren Geschichte.

"Basierend auf wahren Begebenheiten." Ein Hinweis, der das Publikum zu Beginn eines Films oder einer Serie unweigerlich aufhorchen lässt und Erwartungen weckt – auf eine Geschichte, die nicht alltäglich ist, aber eben doch so passierte. Oder zumindest so ähnlich, denn dramaturgische "Korrekturen" braucht es immer, um die Sache für ein breites Publikum rund zu machen.

Ein besonders außergewöhnlicher Fall ist die neue Netflix-Serie "Rentierbaby". Der schottische Comedian Richard Gadd fungiert nämlich nicht nur als Autor und Hauptdarsteller. Er ist zugleich die Person, der die wahre (und sehr verstörende) Geschichte widerfuhr.

Kurz nach der Veröffentlichung ruft Rentierbaby Reaktionen hervor, die die Beteiligten ganz und gar nicht beabsichtigt haben. Richard Gadd zeigt sich darüber entsetzt bei Instagram, kann jetzt aber, wenn überhaupt, nur noch Schadensbegrenzung betreiben.

Womöglich war die Serie, trotz ihres Erfolgs, ein Fehler.

"Rentierbaby": Netflix-Zuschauer werden aktiv

Die Geschichte von "Rentierbaby" in wenigen Sätzen: Donny Dunn (Gadd) wird von einer älteren Frau namens Martha (Jessica Gunning) gestalkt. Sie begegnen sich erstmals, als sie den Pub besucht, in dem er arbeitet. Was folgt, sind unzählige bizarre Voicemails und E-Mails, in denen sie Donny immer wieder "Rentierbaby" nennt. An späterer Stelle nimmt Martha auch die Eltern ihres Opfers ins Visier.

Doch in der Serie geht es nicht nur um sie. Folge vier ergänzt ein wichtiges Puzzleteil: Als Donny Dunn Jahre, bevor er Martha traf, verzweifelt versuchte, eine Karriere als Komiker zu starten, versprach ihm der bekannte TV-Autor Darrien O'Connor (Tom Goodman-Hill) Hilfe, doch eben die erhält Donny nicht. Er wird von Darrien immer wieder zum Konsum von Drogen animiert und schließlich sexuell missbraucht.

Wer die realen Figuren hinter Darrien und Martha sind, offenbart die Serie aber nicht – und genau das ruft jetzt einige Zuschauer:innen auf den Plan, die eigene "Ermittlungen" anstellen. Ins Visier der Fans geriet unter anderem der Autor und Regisseur Sean Foley, der fürs Fernsehen arbeitet und eine optische Ähnlichkeit mit dem Darrien-Darsteller aus der Netflix-Produktion aufweist.

Darrien O'Connor verspricht dem Protagonisten eine große Karriere.

Foley reagierte bei X und tweetete: "Die Polizei wurde informiert und ermittelt gegen alle verleumderischen, beleidigenden und bedrohenden Beiträge gegen mich." Richard Gadd stellte sich vor ihn und beklagte, dass Menschen, mit denen er zusammengearbeitet habe, "zu Unrecht in Spekulationen verwickelt" seien. "Das ist nicht der Sinn unserer Serie."

Und die Eskalationsspirale dreht sich noch weiter. Bei der "Daily Mail" meldete sich vor wenigen Tagen die angeblich "echte Martha" zu Wort und erhob Anschuldigungen gegen Richard Gadd. Sie sei demnach das Opfer und werde durch die Show "für Ruhm gemobbt". Fans des Serien-Schöpfers hätten ihr im Internet Morddrohungen geschickt.

Meldung

Dabei hatte Gadd noch bei "GQ" angegeben, das reale Vorbild von Martha sei bis zur totalen Unkenntlichkeit anonymisiert worden. Nun holt ihn die Realität ein, denn natürlich wird sich eine (mutmaßliche) Stalkerin in einer global ausgespielten Serie wiedererkennen, sofern ihr (mutmaßliches) Opfer nicht noch 100 weitere Stalkerinnen hatte.

Im Pub trifft der Hauptcharakter auf seine Stalkerin Martha.

"Rentierbaby"-Schöpfer irritiert mit Aussagen

Überhaupt wird das ganze Drama noch irritierender dadurch, dass Richard Gadd alle Beteiligten schützen möchte. Ja, eben auch die Personen, die ihm real Gewalt angetan haben. Beim "Hollywood Reporter" stellte er klar:

"Offensichtlich waren wir uns sehr bewusst darüber, dass es sich bei einigen Charakteren um verletzliche Personen handelt, denen man das Leben nicht noch schwerer machen möchte. Man muss also Dinge ändern, um sich selbst und andere Menschen zu schützen."

Umso mehr stellt sich nach dem Release der Serie und der aus dem Ruder laufenden Detektivarbeit der Fans die Frage: Was hat Richard Gadd erwartet? Man möchte ihm an den Kopf werfen: "Willkommen im Internet!"

Wenn die angepriesene wahre Geschichte in der Serie Leerstellen hat, werden zahlreiche neugierige Zuschauer:innen vieles dafür tun, um diese zu füllen. Zu hoffen, dass entsprechende Recherchen beim Wikipedia-Artikel zu "Rentierbaby" enden, ist mehr als naiv.

Der Schauspieler mag schlicht davon ausgegangen sein, dass seine Serie niemals so durch die Decke gehen würde wie es aktuell der Fall ist. Doch Überraschungshits sind bei Netflix absolut keine Seltenheit, insbesondere nicht bei extrem drastischen Storys. Das wohl prominenteste Beispiel: "Squid Game". Auch die Erfolge diverser True-Crime-Produktionen hätten Gadd ins Grübeln bringen können.

Meldung

Vor 20 oder 30 Jahren hätte eine Serie wie "Rentierbaby" sicherlich noch nicht derart weite Kreise gezogen, heute aber ist die Preisgabe fast jeder privaten Information im Internet immer auch eine Gefahr. Und Netflix ist nicht einfach nur eine Quelle im Internet – sondern der weltweit größte Streaming-Dienst, wo eine "wahre Geschichte" im Handumdrehen zum Bumerang werden kann.