China spielt mit Putin: "Russland soll weder vollständig gewinnen noch auf ganzer Linie verlieren"

Putin braucht seinen "Freund" Xi Jinping mehr als je zuvor. China ist sich dieser Abhängigkeit bewusst.

"Entschuldigung, dass ich so lange gesprochen habe, ohne eine Pause für den Übersetzer", sagt Kreml-Chef Wladimir Putin mit einem Schmunzeln auf den Lippen. "Ich fühle mich hier so wohl, ich dachte, alle verstehen Russisch", fügt er an, worauf das Publikum zustimmend applaudiert.

Auch Chinas Staatschef Xi Jinping bringt Putin mit seinen Worten zum Lachen. Die sonst eher grimmig und streng blickenden Machthaber zeigen sich ungewohnt locker und herzlich – als träfen zwei alte Kumpels bei einer Geburtstagsfete aufeinander.

Mein "alter Freund Chinas" bezeichnet Xi den russischen Präsidenten, der isoliert in der Ecke auf der politischen Weltbühne steht. Doch in China ist Putin noch immer ein gern gesehener Gast.

Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich Russland ins Abseits gestellt. Nur noch wenige Freunde stehen Putin zur Seite. Der mächtigste darunter ist der Nachbar China.

Daher verwundert es Expert:innen kaum, dass der 71-Jährige nach dem Antritt seiner neuen sechsjährigen Amtszeit als Erstes China besucht. Das entgeht auch Chinas Staatschef Xi nicht. Laut ihm zeigt Putins Besuch, welch großen Stellenwert die russische Regierung der Entwicklung der russisch-chinesischen Beziehungen beimesse. "China weiß das zu würdigen."

China ist der letzte einflussreiche Freund von Russland

Die Wahrheit lautet: "China ist der einzige große Partner, der Russland noch bleibt", sagt Temur Umarov auf watson-Anfrage. Er forscht am Carnegie Endowment for International Peace mit Fokus auf China, Russland und Zentralasien.

Laut ihm gibt es für Russland keine Alternative zu China. Um etwa die westlichen Sanktionen abzufedern, braucht der Kreml die Hilfe des Nachbarlandes. China setzt hier auf ein gekonntes Doppelspiel: Auf der einen Seite will Xi den Westen nicht zu sehr verärgern, auf der anderen Seite reicht er Putin seine helfende Hand.

"Auch wenn China die Beziehungen zu Europa und den USA nicht gefährden möchte, ist es doch bestrebt, Russland als stabilen strategischen Partner zu erhalten", schreibt der Analyst Nathaniel Sher vom "Carnegie Russia Eurasia Center". Demnach versorge China Russland mit Dual-Use-Gütern anstelle von fertigen Waffen. Diese Güter können sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden.

Sher zufolge ermöglicht das China, seinen Verbündeten weiterhin zu unterstützen, ohne selbst in die Schusslinie zu geraten. Und der Plan geht auf.

China macht gute Geschäfte mit Russland – trotz Sanktionen

"Seit dem vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 sind die chinesischen Exporte nach Russland um mehr als 60 Prozent gestiegen", schreibt Sher. Russland verkaufte 2023 zudem fast sein gesamtes Öl nach China und Indien.

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Trotz Sanktionen gelingt es Russland noch immer, sein Öl auf den Weltmärkten zu verkaufen und damit reichlich Geld in die Kreml-Kasse zu spülen. Viele Analyst:innen gehen laut Sher davon aus, dass der Handel mit China für die russische Wirtschaft eine Art Rettungsanker ist.

"Die Abhängigkeit ist inzwischen groß und wird womöglich weiter wachsen", sagt Osteuropa-Experte Andreas Umland auf watson-Anfrage. Laut ihm ersetzt China frühere westliche Handels- und Investitionspartner Russlands, und Chinas relative Macht gegenüber Russland steigt mit jedem Kriegsmonat.

"Die russische Rüstungswirtschaft erzeugt mit ihrer Produktion von Waffen und anderen Kriegsgütern ein Scheinwachstum, welches einen tatsächlichen ökonomischen Niedergang des Landes verschleiert", führt der Analyst des Stockholm Centre for Eastern European Studies aus.

Ihm zufolge wird auch die chinesische Wirtschaft derzeit von Krisen geschüttelt. Doch sie wachse bislang weiter und profitiere vom russischen Rohstoffreichtum sowie großen Konsumgütermarkt. "Hinzu kommt, dass Russland offenbar immer mehr Transfers seiner modernen Militärtechnologien nach China zulässt", sagt Umland.

Für die Ukraine verheißt das Putin-Xi-Bündnis offenbar nichts Gutes.

Putin als antiamerikanischer Juniorpartner Chinas

"Aufgrund der gemeinsamen antiamerikanischen und antiliberalen Frontstellung der beiden Autokratien und des Taiwanfaktors wird Russland auch weiterhin erheblich und womöglich noch größere Hilfe von China erhalten", prognostiziert Umland.

Xi und Putin umarmen sich beim Treffen in China.

Jedoch verfolgen beide Länder nicht unbedingt die gleichen Interessen.

"Peking will Moskau offenbar weder vollständig gewinnen noch auf ganzer Linie verlieren lassen", sagt der Experte. Ein russischer Sieg mit chinesischer Unterstützung würde Russland stärken, jedoch den Westen von Peking weiter entfremden. Chinas krisenanfällige Wirtschaft wolle westliche Sanktionen gegen Banken und Firmen unbedingt vermeiden.

Die andere Option, eine russische Niederlage, "würde Putins Regime destabilisieren sowie eine anschließende russische politische Transformation beziehungsweise Destruktion auslösen", meint Umland. Dadurch könne Russland als antiamerikanischer Juniorpartner Chinas wegbrechen.

Umland warnt demnach:

"Man sollte vor dem Hintergrund dieser Interessenlage und Pekings offensichtlicher Verletzung seiner Verpflichtungen gegenüber Kiew nicht allzu viel auf chinesische Friedensaufrufe geben."

Der Experte ruft in Erinnerung: China habe in der Vergangenheit wiederholt und offiziell seinen Respekt für die Souveränität und Grenzen der Ukraine bekundet. Zum Beispiel im Rahmen des inzwischen voll ratifizierten chinesisch-ukrainischen Freundschaftsvertrages von 2013.

China blüht im Schatten des Krieges in der Ukraine – "keine Intention für Frieden"

Dennoch:

"Seit 2014 ist Pekings Scheinneutralität eine entscheidende Bedingung dafür, dass Russland seine unverblümte Grenzrevision und genozidale Aggression gegenüber der Ukraine durchsetzen kann."

Umland begegnet der "pazifistischen und völkerrechtskonformen offiziellen Rhetorik Pekings" daher skeptisch. Im Gegenteil: "China ist – wie die dosierte Unterstützung für Russland indiziert – an einer möglichst langen Fortsetzung des Krieges interessiert."

Denn der Konflikt binde westliche Ressourcen. Zudem lenke er den gefährlichen Gegenspieler Chinas ab: die USA.

Am Ende ziehe China "als lachender Dritter" Nutzen aus den verschiedenen Rückwirkungen des Ukraine-Krieges im gesamten euroasiatischen Raum, sagt Umland. Vor allem in Russland selbst, aber auch etwa in Europa, Zentralasien und Ostasien.

Muss sich der Westen warm anziehen vor dieser Putin-Xi-"Brüderschaft"?

China-Russland-Bündnis: Westen muss jetzt entschlossen auftreten

Laut Umland erweckt die Allianz Pekings und Moskaus tatsächlich den Eindruck einer stabilen antidemokratischen und antiamerikanischen Einheitsfront. Zu dieser könne man zudem eine Reihe berüchtigter Schurkenstaaten, wie den Iran, Nordkorea oder Syrien, hinzuzählen.

Doch die gute Nachricht sei: Autoritäre Regime leiden bezüglich ihrer Außen- und Innenpolitik unter hoher Wechselhaftigkeit. Sprich, sie sind nicht so stark, wie sie nach außen wirken wollen.

Putin genießt seinen Tee in der Gesellschaft von Xi.

"Die Weltgeschichte zeigt, dass offene politische Systeme – in denen Wettbewerb, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus möglich sind – nicht nur für ihre eigenen Bürger, sondern auch auf internationaler Ebene leistungsfähiger sind", meint Umland.

Laut ihm können sie sowohl mit inneren Spannungen als auch mit Konflikten mit ihren internationalen Partnern besser umgehen. Wichtig sei jetzt, dass der Westen seine Ent- und Geschlossenheit bewahrt und konkret die Ukraine in vollem Umfang unterstützt.

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Das beste Mittel zur Eindämmung des russischen und chinesischen Revisionismus lautet Umland zufolge: ein mit westlicher Unterstützung errungener ukrainischer Sieg auf dem Schlachtfeld und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine.